Wenig Strecke mit viel Geschichte - oder mit dem Rad in Bowies Spuren

Mittwoch, 1. Oktober 2014

Stellt euch vor, ihr steigt aufs Rad und macht euch auf den Weg zur Arbeit. Und plötzlich wird die kurze Fahrt zu einer Reise durch die Geschichte ... - 
So ähnlich erging es Indre von M i MA, die in einem Gastbeitrag zu meiner Reihe Stadt-Land-Rad zeigen wollte, wo sie so mit dem Fahrrad unterwegs ist. Doch dann entdeckte sie, dass ihr Weg zur Arbeit auf den Spuren einer der größten Popikonen unserer Zeit verläuft, begann zu recherchieren und grub sich immer tiefer in die Geschichte einer der interessantesten Straßen Berlins ... 

Die Tour de Berlin wurde zur Tour de Temps. Und auf diese Tour möchten Indre und ich euch mitnehmen: Wir werden ab heute jeden Mittwoch einen Streckenabschnitt vorstellen, bis wir gegen Jahresende (!) am Ziel sind.

Heute lernt ihr hier die Route und das erste Teilstück kennen und könnt bei Indre erfahren, was David Bowie damit zu tun hat.


Hauptstraße 155 Berlin-Schöneberg
Hauptstraße 155 in Berlin Schöneberg - Foto: Detmar Owen via Wiki Commons
Hier nun Indres erster Beitrag:

Die berlinerischste Straße der Stadt 
Die Potsdamer Straße ist nicht nur eine der verkehrsreichsten, sie ist auch eine der 
geschichtsträchtigsten Straßen Berlins. Man nimmt es jedoch kaum wahr im Rauschen 
der Gegenwart, diesem Potpourri der Widersprüche aus Verkehrslärm und 
Marktgeschrei, Altbaucharme und Neubautristesse, schönen Künsten und niederer 
Kultur. Hier spiegelt sich die kurze Geschichte der Großstadt Berlin – wie die Welt in 
einer Nussschale – wider, garniert mit so manchen Halbwahrheiten und Mythen. Dazu 
zählt beispielsweise die Legende ihrer überregionalen Bedeutung als Teilstück des 
Handelsweges von Aachen nach Königsberg. Das ist, wie die Autoren des Buchs Die 
Potsdamer Straße. Geschichten, Mythen und Legenden, Sybille Nägele und Joy Markert 
richtigstellen, eine Erfindung der Nationalsozialisten, die mit der historischen 
Wirklichkeit nur wenig gemein hat. Die besagte Handelsstraße führt über Magdeburg. 
Berlin ist im Mittelalter ein unbedeutendes Dorf. Das ‚Areal um den Schafgraben, heute 
Landwehrkanal, [war] ein Überschwemmungsgebiet und die Straße für Gefährte und 
Fußgänger kaum passierbar.´(Ebda. S. 15) Erst Mitte des 18. Jahrhundert, unter dem 
preußischen König Friedrich Wilhelm II., wird sie befestigt und mehr schlecht als recht 
befahrbar gemacht – und so bleibt es lange Zeit. Noch Adelbert von Chamisso sieht die 
Kutschen 1822 vom Botanischen Garten aus (Gebiet des heutigen Kleistparks) 
bedrohlich schwanken auf dem Holperweg.  

1798 Schoeneberg
Schöneberg bei Berlin um 1798 - I.F.Schneider via Wiki Commons

Schöneberg ist zu jener Zeit ein Dorf vor den Toren der rasant wachsenden Stadt Berlin. 
Die Potsdamer Straße, die durch die Äcker und Wiesen der Schöneberger Bauern führt, 
ist ein beliebtes Ausflugsziel. Gasthäuser, Garten- und Bierlokale siedeln sich an; nach 
und nach kommen Ferienwohnungen und Landhäuser für stadtüberdrüssige 
Berliner/innen hinzu. Bis 1860 ist das einstige Ackerland bis zum Landwehrkanal 
bebaut. Doch mit dem heutigen Erscheinungsbild der Straße hat es wenig gemein: Alte 
Landgehöfte, klassizistische Landhäuser und Villen mit großzügigen Gärten säumen den 
Weg. Erst ab 1861, als das Gebiet rund um die Potsdamer Straße der Boomtown Berlin 
zugeschlagen wird, weichen diese peu á peu der typischen Blockbebauung. Damit 
nimmt die so turbulente wie dichte Straßengeschichte ihren Lauf.  

BVG Hauptsitz 01
ehemalige BVG-Hauptverwaltung, Potsdamer Straße - Foto: Christian Liebscher via Wiki Commons

Der Verwaltungsdistrikt 
Gleich wenn man mit Bowie aus dem ‚Anderen/Neuen Ufer’ tritt und quer über die 
Kreuzung, nach der die Haupt- zur Potsdamer Straße wird, gen Süden schaut, fällt der 
Blick auf steingewordene Historie. Dort wo sich einst Chamissos Arbeitsstätte – der 
Botanische Garten – befand, beginnt der Verwaltungsabschnitt Potsdamer Straße, in 
dem sich zu Bowies Zeiten flächendeckend die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) breit 
gemacht haben. In dem monumentalen Sandsteinbau an der Ecke 
Potsdamer-/Grunewaldstraße saß zuvor die Oberste Bauleitung der Deutschen 
Reichsautobahn; heute sitzt hier die Hochschule der populären Künste. Gleich nebenan 
steht ein zweites Exemplar nationalsozialistischer Verwaltungsarchitektur, in den Jahren 
1938/39 für die Deutsche Milchwirtschaft erbaut, anschließend von der BVG genutzt, 
steht es heute leer.

Kleistpark Kolonnaden1 Berlin
Königskolonnaden am Kleistpark - Foto: Lienhard Schulz via Wiki Commons

Wenn wir weiter radeln, erleben wir jetzt die berlintypischen Zeitrhythmusstörungen: 
Wir fallen von der Zeit des Nationalsozialismus ins 18. und gleich darauf ins 20. 
Jahrhundert. Auf die Monumentalbauten der NS-Zeit folgt nun antikenverliebte Strenge: 
die klassizistischen Königskolonnaden aus dem 18. Jahrhundert. Sie wirken ein wenig 
fehl am Platze – und das sind sie auch. Ursprünglich säumten sie als Teil der 
klassizistischen Gesamtensembles den Eingang zur alten Stadt Berlin am heutigen 
Alexanderplatz. 1910 wurden sie zugunsten des Warenhauses Wertheim an den 
Kleistpark verpflanzt. Seither dienen sie als Entree zum Heinrich-von-Kleist-Park und 
geben den Blick frei auf das Kammergerichtsgebäude, in dem 1944/1945 'Hitlers 
williger Vollstrecker' Roland Freisler die Schauprozesse gegen die Widerstandskämpfer 
des 20. Juli 1944 leitete. Ob Bowie davon weiß? Vielleicht. Er beschäftigt sich viel mit 
deutscher Kultur und Geschichte.

Kleistpark Berlin 2
Heinrich-von-Kleist-Park mit Blick auf das "Kathreiner Haus" - Foto: Manfred Brückels via Wiki Commons

Hinter den Königskolonnaden schießt das Kathreiner-Haus im Stil der Sachlichkeit in 
die Höhe. Es wurde 1928 von dem Architekten, Möbeldesigner, Inneneinrichter und 
Karikaturisten Bruno Paul (1874 bis 1968) für den Malzkaffee-Hersteller 
Kathreiner entworfen. Paul gilt als Pionier der modernen Verwaltungsarchitektur und ist 
heute doch kaum bekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte erst die BVG, dann der 
Berliner Senat das 9400qm große Gebäude. Seit 2012 steht es leer. Nur im 
Eingangsbereich zur Potsdamer Straße hat sich ein Obdachloser zwischen Tütenbergen, 
Konservendosenmauern und getrockneten Teebeuteln eingerichtet. An der Ecke 
Potsdamer/Pallasstraße befindet sich das vorerst letzte Verwaltungsgebäude. Dort wo 
seit 1981 das selbstverwaltete Jugendzentrum Drugstore zuhause ist, war einst der 
Hauptsitz der nationalsozialistischen Einheitsgewerkschaft, der Deutschen Arbeitsfront 
(DAF).  




Mit Klick auf die Karte findet ihr Informationen und weitere Bilder zu den einzelnen Markierungen.
Mehr zum ersten Streckenabschnitt erfahrt ihr bei M i MA.

Nächste Woche geht es um den Vergnügungstempel, der zur Wohnmaschine wurde oder wie Bowie Zeuge eines der größten Bauverbrechen der Nachkriegszeit wurde.

Ich freue mich schon drauf und hoffe, ihr radelt wieder mit.


Bis bald!
diefahrradfrau

5 Kommentare:

  1. Liebe Fahrradfrau,
    vielen Dank für die informative Reise "durch dat olle Berlin"schön siehts aus Freu mich schon auf den nächsten Abschnitt.
    Liebe Grüße
    vom muffin

    AntwortenLöschen
  2. Ich freue mich auch schon darauf, mit dir und euch weiterzuradeln. Liebe Grüße!

    AntwortenLöschen
  3. Cool, manchmal erfährt man selbst als alter Balina noch watt...
    Liebe Grüße,
    Andrea

    AntwortenLöschen
  4. Ja gerne radel ich in Gedanken wieder mit, Deine Exkursion war sehr interessant.
    Meine Radelerfahrungen in Berlin hab ich am Prenzlauer Berg gemacht und vor lauter Verkehr nicht viel von der Umgebung und der Architektur mitbekommen, leider.
    Lieben Gruß
    Sabine

    AntwortenLöschen
  5. Tolle Idee, die vielen Stadtinfos mit David Bowie zu verknüpfen. Lese gerne bald weiter!

    AntwortenLöschen

Vielen Dank für deinen Kommentar!